1. Einleitung
Einen für die Baurechtspraxis bedeutsamen Fall hatte jüngst der Bundesgerichtshof zu entscheiden (BGH, Urt. v. 13.10.2016 – IX ZR 149/15 = NZBau 2017, 40 ff.). In der Sache ging es um die Frage, ob und inwieweit ein vermietender Hauseigentümer, der durch eine fehlerhafte untersagende einstweilige Verfügung an der Durchführung von Sanierungsarbeiten vorübergehend gehindert worden ist, den Mieter, der die einstweilige Verfügung erwirkt hatte, unabhängig von Rechtswidrigkeit und Schuld auf Schadensersatz in Anspruch nehmen kann.
Die Entscheidung unterstreicht nochmals eindrucksvoll, welchen „Bumerang-Effekt“ eine möglicherweise vorschnell erwirkte einstweilige Verfügung haben kann. Insbesondere § 945 ZPO wurde insoweit erneut ins Blickfeld gerückt. Die Entscheidung sollte jedem, der über eine einstweilige Verfügung nachdenkt, Anlass geben, einen prüfenden Blick auf die möglichen Rechtsfolgen einer sich später herausstellenden, fehlenden Rechtfertigung der Verfügung zu richten.
2. Sachverhalt
Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Die Klägerin war Eigentümerin einer Reihe von mit Wohngebäuden bebauten Grundstücken in Berlin. Der Beklagte war langjähriger Mieter einer der Wohnungen in den aus den 1930er Jahren stammenden Mietshäusern der Klägerin.
Mit Schreiben vom 27.05.2009 kündigte die Klägerin ihren Mietern an, umfangreiche Sanierungs- und Energieeinsparungsmaßnahmen in den Häusern vorzunehmen, mit deren Durchführung am 15.09.2009 begonnen werden sollte. Am 04.09.2009 stellte der Beklagte einen Antrag auf Durchführung eines selbstständigen Beweisverfahrens, gerichtet auf Feststellung des Instandsetzungsbedarfs an den Mietshäusern der Klägerin. Zugleich beantragte er den Erlass einer einstweiligen Verfügung, mit welcher der Klägerin die ab dem 15.09.2009 beabsichtigten Baumaßnahmen bis zu einer vollständigen Begutachtung durch den zu bestellenden Sachverständigen untersagt werden sollten. Mit Beschluss vom 07.09.2009 untersagte das mit der Angelegenheit betraute Amtsgericht Charlottenburg weitgehend antragsgemäß den Beginn der Baumaßnahmen.
Am 16.11.2009 legte die Klägerin Widerspruch gegen die vom Amtsgericht erlassene einstweilige Verfügung ein. Sodann ruhte das Verfahren mit Zustimmung beider Parteien bis zur Wiederaufnahme durch die Klägerin im Februar 2010.
Mit Urteil vom 29.04.2010 bestätigte das Amtsgericht den Beschluss vom 07.09.2009 nur teilweise. Im nachfolgenden Berufungsverfahren nahm der Beklagte auf Anregung des Landgerichts Berlin mit Schriftsatz vom 09.08.2010 den Antrag auf Erlass der einstweiligen Verfügung zurück. Das vom Amtsgericht abgetrennte selbstständige Beweisverfahren lief noch bis zum Februar 2011.
Die Klägerin nahm im Nachgang den Beklagten auf Schadensersatz in Anspruch. Sie habe die Bauarbeiten wegen der einstweiligen Verfügung in der Zeit vom 15.09.2009 bis zur Rückgabe der Ausfertigung der einstweiligen Verfügung im September 2010 nicht durchführen können. Deshalb verlangte sie
- Ersatz einer an ihre Generalübernehmerin erbrachten Schadensersatzleistung in Höhe von 39.330,11 €,
- Ersatz von Zinsen für die Bereitstellung und den teilweisen Abruf von zwei Bankdarlehen i.H.v. 5183,89 €
- und des Mietausfalls für vier Dachgeschosswohnungen i.H.v. 29.415 €.
Das Amtsgericht Charlottenburg hat diese Klage abgewiesen (AG Berlin-Charlottenburg, Urt. v. 22.05.2014 – 226 C 50/14). Auch die Berufung ist erfolglos geblieben (LG Berlin, Urt. v. 02.07.2015 – 18 S 195/14).
Mit ihrer Revision zum BGH verfolgte die Klägerin ihr Begehren weiter.
3. Entscheidung
Die Revision der Klägerin hatte im Kern Erfolg und führte zur Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht Berlin (Zurückverweisung ans Berufungsgericht).
Der BGH führt zu den Gründen aus, dass die Erwägungen des Landgerichts nicht in allen Punkten einer rechtlichen Nachprüfung standhielten. Ein der Klägerin durch die einstweilige Verfügung entstandener, kausaler Schaden könne nicht – so einfach, wie es sich das Landgericht gemacht habe – abgelehnt werden. Das Landgericht habe nämlich u.a. übersehen, dass ein ersatzfähiger Schaden schon dann gegeben sein könne, wenn die „selbstschädigende Handlung des Gläubigers“ (etwa die von der Klägerin gegenüber ihrer Generalübernehmerin erbrachte Schadensersatzleistung) durch den Schädiger „herausgefordert“ sei.
3.1 Schadensersatzanspruch nach § 945 ZPO
Grundlage des von der Klägerin geltend gemachten Schadensersatzanspruchs sei hiernach § 945 ZPO. Die Norm lautet wie folgt:
- „Erweist sich die Anordnung (…) einer einstweiligen Verfügung als von Anfang an ungerechtfertigt oder wird die angeordnete Maßregel auf Grund des (…) § 942 Abs. 3 ZPO aufgehoben, so ist die Partei, welche die Anordnung erwirkt hat, verpflichtet, dem Gegner den Schaden zu ersetzen, der ihm aus der Vollziehung der angeordneten Maßregel oder dadurch entsteht, dass er Sicherheit leistet, um die Vollziehung abzuwenden oder die Aufhebung der Maßregel zu erwirken.“
Diese Vorschrift begründe eine „weder Rechtswidrigkeit noch Schuld voraussetzende Risikohaftung des Gläubigers“:
Wer – wie der Beklagte – aus einem noch nicht endgültigen Titel die Vollstreckung betreibe, solle nach § 945 ZPO das Risiko tragen, wenn sich sein Vorgehen nachträglich als unberechtigt erweise.
Ersatzfähig sei allerdings nur der aus der Vollziehung der einstweiligen Verfügung verursachte Schaden im Sinne der §§ 249 ff. BGB. Für die Bemessung des Schadens seien die allgemeinen Grundsätze, insbesondere auch § 287 ZPO heranzuziehen. Der Schadensersatzanspruch umfasse demnach grundsätzlich den durch die Vollziehung der einstweiligen Verfügung adäquat kausal verursachten, unmittelbaren oder mittelbaren Schaden einschließlich des in Folge des Vollzugs von Verbotsverfügungen entgangenen Gewinns des Schuldners.
3.2 Zurechnungszusammenhang zwischen schädigendem Ereignis und Schaden
Nach Auffassung des BGH hat sich das Landgericht als Berufungsgericht nur unzureichend mit dem Vortrag der Klägerin zum Zurechnungszusammenhang auseinandergesetzt.
Das Landgericht habe insoweit noch angenommen, der Klägerin sei – trotz der von ihr behaupteten Zahlung von 39.330,11 € an die Generalübernehmerin – kein ersatzfähiger Schaden in dieser Höhe entstanden. Auch zu den weiteren Positionen führe das Landgericht nicht ausreichend aus.
3.2.1 Anspruch auf 39.330,11 € Schadensersatz
Richtig sei demgegenüber Folgendes:
Ein Zurechnungszusammenhang zwischen einem schädigenden Ereignis und dem Schaden fehle nur, wenn der Geschädigte (hier: die Klägerin) selbst in völlig ungewöhnlicher oder unsachgemäßer Weise in den schadensträchtigen Geschehensablauf eingreife und eine weitere Ursache setze, die den Schaden endgültig herbeiführe.
Von dieser Rechtsprechung weiche das Landgericht Berlin ab, indem es eine Herausforderung der Klägerin zur Zahlung der 39.330,11 € an die Generalübernehmerin durch die vom Beklagten erwirkte einstweilige Verfügung nicht in Erwägung ziehe.
Es liege aber – so der BGH – gerade nicht außerhalb aller Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Bauherr in Folge einer Untersagung des Baubeginns Schadensersatzforderungen eines Bauunternehmens ausgesetzt siehe. In der unter Beweisantritt behaupteten Zahlung der 39.330,11 € liege denn auch der Vermögensschaden der Klägerin. Diese habe schließlich auch ausreichend dazu vorgetragen, dass der durch die einstweilige Verfügung angeordnete Baustopp zu einer Verzögerung geführt habe, aus dem die Generalübernehmerin ihren Zahlungsanspruch habe ableiten können.
3.2.2 Anspruch auf Erstattung der Bereitstellungszinsen für die Darlehensverträge
Die Auffassung des Landgerichts, ein aus den Darlehensverträgen resultierender etwaiger Schaden in Form von Bereitstellungszinsen sei nicht auf die Vollziehung der einstweiligen Verfügung zurückzuführen, weil die Darlehensverträge erst nach deren Zustellung abgeschlossen worden seien, greife ebenfalls zu kurz:
Es könne durchaus ein „Zurechnungszusammenhang“ zwischen der Entstehung der geltend gemachten Zinsen bei der Klägerin und der durch die einstweilige Verfügung verursachten Verschiebung der Baumaßnahme bestehen. Dies weiter zu prüfen sei indes Aufgabe des Landgerichts selbst, an das die Angelegenheit zurückverwiesen werde.
3.2.3 Anspruch auf Mietausfallschaden
Auch die vom Landgericht Berlin noch angenommene Ablehnung eines Mietausfallschadens betreffend die Dachgeschosswohnungen wegen aus Sicht des Landgerichts nicht hinreichend konkreter und in sich plausibler Schadensdarstellung könne nach BGH im konkreten Fall keinen Bestand haben.
Ein Mietausfallschaden sei grundsätzlich dann hinreichend dargelegt, wenn nach dem Vortrag des Vermieters
- angesichts des Mietobjekts
- und der Marktlage
- üblicherweise ein neuer Mieter
- innerhalb einer bestimmten Frist nach Beendigung der Baumaßnahmen gefunden worden wäre.
Anknüpfend an das Tatbestandsmerkmal der Wahrscheinlichkeit i.S.d. § 252 S. 2 BGB gebe es keine feste Regel für die an die Darlegung zu stellenden Anforderungen. Vieles hänge insoweit von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab. Ob die Voraussetzungen im konkreten Fall vorlagen, war wiederrum vom Landgericht zu prüfen.
3.3 Mitverschulden der Klägerin
Allerdings sei auch zu prüfen, ob der Klägerin ein eigenes Verhalten zur Last zu legen sei, welches den später eingetretenen Schaden – für sie erkennbar – begünstigt habe und ihr vor allem deshalb auch von dem Beklagten entgegengehalten werden könne.
Das Landgericht Berlin werde sich demnach mit der Frage zu befassen haben, ob die Klägerin ihrerseits Anlass zur Erwirkung der einstweiligen Verfügung durch den Beklagten gegeben habe. Dabei werde es insbesondere
- den Streit um die Sanierungsbedürftigkeit der Wohnhäuser
- und um den Abschluss der Vereinbarung einer Modernisierungsumlage
- sowie einer Vereinbarung, vor Beginn der Arbeiten die Begutachtung durch einen Sachverständigen abzuwarten,
zu würdigen haben.
Ferner werde zu berücksichtigen sein, dass die Klägerin gegen die ihr nach eigenem Vortrag bereits am 16.09.2009 zugestellte einstweilige Verfügung erst am 16.11.2009 Widerspruch eingelegt und später einem Ruhen des Verfahrens zugestimmt und erst am 19.02.2010 die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt habe.
4. Fazit
Die Entscheidung hat den Rechtsstreit nicht beendet, sondern die Angelegenheit an das Berufungsgericht – das Landgericht Berlin – zurückverwiesen.
Es lassen sich aus den Ausführungen des BGH jedoch (insbesondere mit Blick auf den „Zurechnungszusammenhang“ und die Ersatzfähigkeit von Schadenspositionen) bedeutsame Grundzüge ableiten:
Aus der Entscheidung folgt, dass der vermietende Hauseigentümer, der durch eine ungerechtfertigte untersagende einstweilige Verfügung an der Durchführung von Sanierungsarbeiten vorübergehend gehindert worden ist, denjenigen, der die einstweilige Verfügung erwirkt hat, unabhängig von dessen Rechtswidrigkeit und Schuld auf Schadensersatz in Anspruch nehmen kann, wenn insbesondere die Voraussetzungen nach § 945 ZPO i.Ü. vorliegen.
Umgekehrt ist vom BGH klargestellt worden, dass – im vorliegenden Fall – die Haftung des beklagten Mieters wegen eines Mitverschuldens des klagenden Vermieters gemindert sein kann. Dieses „Mitverschulden“ kann hiernach in Betracht kommen, wenn der klagende Vermieter die einstweiligen Verfügung, die zur Verzögerung geführt hatte, selbst veranlasst hat oder wenn er vorwerfbar verspätet Widerspruch gegen die einstweilige Verfügung erhoben hat.
Schließlich kann eine vom klagenden Hauseigentümer an seinen Generalübernehmer gezahlte Verzögerungsentschädigung nach den Ausführungen des BGH einen ersatzfähigen Schaden auch dann darstellen, wenn der Generalübernehmer auf diese Zahlung an sich keinen Anspruch hatte.
Für die Ersatzfähigkeit reicht es nach den Grundsätzen zur Zurechnung herausgeforderten selbstschädigenden Verhaltens nämlich aus, dass der Hauseigentümer das Zahlungsbegehren des Generalübernehmers als berechtigt ansehen und die Zahlung an diesen als vernünftig und zweckmäßig ansehen durfte (vgl. redaktionelle Leitsätze BGH NZBau 2017, 40).
Dr. Carsten Albers
Rechtsanwalt