Mandantenfrage:
Unser Nachbar hat ein Grundstück, das er nicht pflegt. Es sieht aus wie in einem Urwald. Die an der Grundstücksgrenze zu unserem Grundstück stehenden Bäume sind so groß, dass deren Äste schon seit Jahren auf unser Grundstück herüberragen. Unser Grundstück wird übersät von einer Fülle von Fichten- und Kiefernzapfen, Nadeln, kleinen herabfallenden Ästen und Laub. Wir haben den Nachbarn bereits mehrmals aufgefordert, die Bäume zurückzuschneiden. Trotz Fristsetzungen und Androhung, dass wir die Arbeiten durch einen Dritten ausführen lassen oder die Äste selbst zurückschneiden, reagiert er nicht bzw. meint, die Bäume blieben so wie sie seien, sie würden dort bereits seit Generationen stehen. Können wir die Äste einfach zurückschneiden, auch wenn dann von dem Baum „nur noch die Hälfte“ bleibt?
Expertenantwort:
Sofern die überhängenden Äste und/oder die von dem Baum herabfallenden Nadeln, Zapfen etc. Ihre Grundstücksnutzung beeinträchtigen und Sie Ihren Nachbarn bereits ergebnislos unter Fristsetzung zum Rückschnitt aufgefordert haben, können Sie die betreffenden Äste zurückschneiden. Sie müssen die Beeinträchtigung Ihres Grundstücks nicht dulden. Der Rückschnitt der Äste kann selbst dann erfolgen, wenn der Baum dadurch in seiner Standfestigkeit bedroht ist. Der Bundesgerichtshof hat erst kürzlich, im Juni 2021, entschieden, dass das Selbsthilferecht des beeinträchtigten Nachbarn bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen ohne Einschränkungen bestehe; insbesondere sei eine Verhältnismäßigkeit- oder Zumutbarkeitsprüfung gesetzlich nicht vorgesehen. Sie müssen jedoch darauf achten, dass dem Rückschnitt keine naturschutzrechtlichen Regelungen, etwa eine Baumschutzsatzung oder –verordnung, oder andere gesetzliche Schnittverbote (§ 39 BNatSchG, 1. März bis 30. September) entgegenstehen.
Handlungsempfehlung:
Sie dürfen die überhängenden Äste grundsätzlich zurückschneiden. Die Voraussetzungen – Beeinträchtigung und Aufforderung mit ergebnislosem Fristablauf – müssen vorliegen. Auf das „Überleben“ des Baumes müssen Sie dabei keine Rücksicht nehmen. Sollte der Rückschnitt aus Ihrem Dafürhalten den Baum jedoch derart beschädigen (können), dass die Standfestigkeit des Baumes bedroht ist und dieser etwa auf Ihr Grundstück umzustürzen droht, sollten Sie fachlichen Rat, etwa eines Baumsachverständigen oder einer Garten- und Landschaftsbauers einholen. Notfalls sollten Sie sich danach beraten lassen, wie Sie tatsächlich und rechtlich weiter vorgehen.